Zusammenfassung: Das Konkurrenzverhältnis zwischen Mietervorkaufsrecht und dinglichem Vorkaufsrecht ist höchstrichterlich ungeklärt. Während die Literatur überwiegend einen Vorrang des Mietervorkaufsrechts annimmt, spricht eine objektive Betrachtung für eine zeitliche Lösung: Vorrang erhält das Vorkaufsrecht, das „dem Grunde nach“ früher entstanden ist. Diese Lösung ist gerechter und vermeidet willkürliche Wertungen.
In der Immobilienpraxis stehen Eigentümer oft vor einem rechtlichen Dilemma: Wenn sowohl ein Mieter als auch ein dinglicher Vorkaufsberechtigter ihre Rechte geltend machen, wer hat Vorrang? Diese Frage beschäftigt nicht nur Notare, sondern auch Immobilieneigentümer, die rechtssicher handeln möchten.
Das rechtliche Spannungsfeld verstehen
Attention: Das Problem in der Praxis
Stellen Sie sich vor: Sie verkaufen Ihre Eigentumswohnung an einen Dritten. Plötzlich melden sich sowohl Ihr Mieter als auch eine Person, der Sie vor Jahren ein dingliches Vorkaufsrecht eingeräumt haben. Beide wollen die Wohnung kaufen und berufen sich auf ihre jeweiligen Vorkaufsrechte. An wen müssen Sie verkaufen, ohne sich schadensersatzpflichtig zu machen?
Interest: Warum diese Frage so wichtig ist
Diese Konkurrenzsituation ist keineswegs selten. Das Mietervorkaufsrecht nach § 577 BGB schützt Mieter vor Verdrängung bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Gleichzeitig können Eigentümer dingliche Vorkaufsrechte nach §§ 1094 ff. BGB einräumen – etwa zugunsten von Familienangehörigen oder als Sicherung für Geschäftspartner.
Der aktuelle Rechtszustand: Unklarheit herrscht
Keine höchstrichterliche Klarstellung
Der Bundesgerichtshof hat diese zentrale Frage bisher nicht abschließend geklärt. In einer Entscheidung vom 27. April 2023 stellte er ausdrücklich fest: „In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Frage des Konkurrenz- bzw. Rangverhältnisses bislang nicht entschieden.“
Verschiedene Ansätze in der Rechtsliteratur
Die Meinungen gehen stark auseinander:
- Überwiegende Literaturmeinung: Das Mietervorkaufsrecht hat grundsätzlich Vorrang vor dinglichen Vorkaufsrechten
- Differenzierende Ansicht: Vorrang des Mietervorkaufsrechts nur wenn das dingliche Vorkaufsrecht nach Mietvertragsabschluss bestellt wurde
- Kritische Stimmen: Bezweifeln einen generellen Vorrang des Mietervorkaufsrechts
Rechtliche Bewertung: Warum ein pauschaler Vorrang problematisch ist
1. Der Schutzzweck führt in die Irre
Viele Juristen argumentieren mit dem Schutzzweck des § 577 BGB: Mieter sollen vor Verdrängung geschützt werden. Doch dieser Ansatz führt zu einem Zirkelschluss. Der Gesetzgeber hat zwar das Mietervorkaufsrecht geschaffen, aber bewusst keine Vorrangregelung getroffen – im Gegensatz zu anderen Vorkaufsrechten.
2. Rechtsnatur spricht für dingliche Rechte
Dingliche Vorkaufsrechte sind deutlich stärker ausgestaltet:
- Sie wirken gegenüber jedermann (Absolutheitsgrundsatz)
- Sie haben Vormerkungswirkung
- Sie sind im Grundbuch eingetragen
Das Mietervorkaufsrecht hingegen wirkt nur schuldrechtlich zwischen Vermieter und Mieter – eine bewusst schwache Ausgestaltung des Gesetzgebers.
3. Fehlende Vergleichbarkeit mit anderen Vorkaufsrechten
Andere gesetzliche Vorkaufsrechte (z.B. gemeindliches Vorkaufsrecht) dienen dem Allgemeinwohl. Das Mietervorkaufsrecht schützt dagegen Individualinteressen. Diese unterschiedlichen Schutzrichtungen rechtfertigen keine Übertragung der Vorrangregelungen.
Praxisgerechte Lösung: Der Zeitpunkt der Entstehung entscheidet
Objective Kriterium für faire Entscheidung
Statt pauschaler Vorrangregeln sollte entscheidend sein, welches Vorkaufsrecht „dem Grunde nach“ zeitlich früher entstanden ist:
Szenario 1: Dingliches Vorkaufsrecht vor Vermietung
- Erst Eintragung des Vorkaufsrechts im Grundbuch
- Dann Vermietung und Überlassung
- Dann WEG-Aufteilung
- Ergebnis: Dingliches Vorkaufsrecht hat Vorrang
Szenario 2: Vermietung vor dinglichem Vorkaufsrecht
- Erst Vermietung und Überlassung
- Dann WEG-Aufteilung
- Dann Eintragung des dinglichen Vorkaufsrechts
- Ergebnis: Mietervorkaufsrecht hat Vorrang
Szenario 3: Vermietung, dann Vorkaufsrecht, dann Aufteilung
- Erst Vermietung und Überlassung
- Dann Eintragung des Vorkaufsrechts am unaufgeteilten Grundstück
- Dann WEG-Aufteilung
- Ergebnis: Dingliches Vorkaufsrecht hat Vorrang
Umgehungsschutz: Missbrauch vermeiden
Grundsatz Treu und Glauben
Umgehungsversuche – etwa durch kurzfristige Bestellung von Vorkaufsrechten vor geplanten Verkäufen – können über § 242 BGB (Treu und Glauben) verhindert werden. Ein genereller Vorrang des Mietervorkaufsrechts ist dafür nicht erforderlich.
Praktische Grenzen der Umgehung
Echte Umgehungsfälle sind seltener als befürchtet, da:
- Zeitlich enge Zusammenhänge im Grundbuch erkennbar sind
- Beurkundungspflichtige Nebenreden erforderlich werden
- Wirtschaftliche Interessen dagegen sprechen
Fazit
Desire & Action: Was Immobilieneigentümer wissen sollten
Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung empfiehlt sich:
- Frühzeitige Beratung: Lassen Sie sich vor Begründung von Vorkaufsrechten oder Vermietung beraten
- Dokumentation: Halten Sie die zeitliche Reihenfolge der Rechtsgeschäfte genau fest
- Vorsicht bei Umgehungsversuchen: Kurzfristige Konstruktionen können rechtlich angreifbar sein
- Professionelle Abwicklung: Beauftragen Sie bei Konkurrenzsituationen erfahrene Notare
Die hier vorgeschlagene zeitliche Betrachtung bietet eine objektive und faire Lösung, die beiden Seiten gerecht wird. Sie vermeidet willkürliche Wertungen und respektiert sowohl den Mieterschutz als auch die Rechte dinglicher Vorkaufsberechtigter.
In komplexen Fällen sollten Sie nicht zögern, fachkundigen Rat einzuholen. Als spezialisierte Rechtsanwaltskanzlei stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung, um Ihre individuellen Fragen zu klären und rechtssichere Lösungen zu entwickeln.
